Eröffnungsgottesdienstes am 13.02.2011, Pfarrer Jürgen Pratz

Predigt des Eröffnungsgottesdienstes über Lukas 17, 20-24

Als er aber von den Pharisäern gefragt wurde: „Wann kommt das Reich Gottes?“, antwortete er ihnen und sprach: Das Reich Gottes kommt nicht so, dass man's beobachten kann; man wird auch nicht sagen: „Siehe, hier ist es!“, oder: „Da ist es!“ Denn siehe, das Reich Gottes ist mitten unter euch.

Er sprach aber zu den Jüngern: Es wird die Zeit kommen, in der ihr begehren werdet, zu sehen einen der Tage des Menschensohns, und werdet ihn nicht sehen.
Und sie werden zu euch sagen: „Siehe, da!“, oder: „Siehe, hier!“. Geht nicht hin und lauft ihnen nicht nach!
Denn wie der Blitz aufblitzt und leuchtet von einem Ende des Himmels bis zum andern, so wird der Menschensohn an seinem Tage sein.



Liebe Gemeinde,
in einem bin ich mir heute morgen ganz sicher: auch diese zweite Ludwigsburger Vesperkirche wird uns allen wieder sehr gut tun – weil wir nichts besseres machen können, als einen Raum und eine Zeit für Begegnungen zu schaffen. Leben – so hat einer einmal gesagt – Leben ist immer Begegnung und am schönsten immer beim Essen und Trinken. So werden sich in den nächsten Wochen in dieser Friedenskirche wieder Menschen treffen, die aus ganz unterschiedlichen Gründen und aus ganz unterschiedlichen Lebenswelten herkommen. Und es gibt in dieser Vesperkirche keine Bedingungen, um kommen zu können und keine Erwartungen, wenn man da ist und wieder geht. Und wir werden erleben, dass wir alle, egal wie reich oder arm einer ist, dass wir sowohl geben wie auch nehmen können, denn wir sind immer beides: vermögend und doch bedürftig zugleich. Allein das zu spüren, wird uns gut tun. Und es wird dieser evangelischen Kirche gut tun.

Im kirchlichen Alltag – mit seinem vielen Klein-Klein und auch mit den ganzen Empfindlichkeiten und Rechthabereien – habe ich nicht selten den Eindruck, als verkümmere in uns eine große Vision, eine große Hoffnung: nämlich die vom angekommenen und kommenden Reich Gottes. Das zu vergessen wäre gar nicht im Sinn Jesu! Für ihn war das Reich Gottes nahe herbei gekommen. Mehr noch: Jesus trat mit dem Anspruch auf, dieses Reich Gottes mit seiner ganzen Güte, seiner Gerechtigkeit und seinem Frieden sei an seiner Person erkennbar. An diesem Jesus von Nazareth wird anschaulich, was Gottesherrschaft bedeutet: Blinde sehen, Lahme gehen und Kranke werden gesund. Und weiter: Im Gleichnis vom barmherzigen Samariter, das Sie vorhin als Schriftlesung gehört haben, lässt Jesus die vermeintlichen Gottesmänner ziemlich schlecht aussehen. Einen politisch und gesellschaftlich Verfemten –eben einen Samariter- den stellt er indessen als beispielhaft dar. Wahrscheinlich will er seinen Zuhörern damals und uns heute sagen: „Freunde, schaut euch mal Eure eingefahrenen Gleise und Eure Vorurteile an, und wer dabei so alles auf der Strecke bleibt“.

Die Wirklichkeit des Lebens ist viel mehr als das, was ihr oft in den engen Grenzen des kirchlichen Alltags wahrnehmt. Gebt doch einfach einmal Eurer Sehnsucht nach Einigkeit von Gott und Natur, von Gott und Leben Recht, blickt über Eure Mauern, schaut über Eure Zäune und Grenzen und auf die Straßen und Gassen. Auch dort atmen Menschen, vor Gott geachtet, von ihm genau so sehr geliebt wir ihr – weil eben auch sie seine Geschöpfe sind und er es will, dass sie leben.

Und genau damit traut uns Jesus zu, uns aus festgefahrenen Bahnen, Anschauungen und Dünkel zu lösen, um dann in die Bahn jener ersehnten Freiheit einzuschwenken, die seine Bahn gewesen ist. Sehen Sie, so verstehe ich den erstaunlichen Satz aus dem Bibeltext: „Das Reich Gottes ist mitten unter Euch“ – unter uns - klein und unscheinbar, leicht zu übersehen und doch da, mit seiner ganzen Kraft des Wachsens und der Veränderung. Das ist unsere Möglichkeit. In uns allen ist ein „Reich-Gottes-Keim“ angelegt, der zwar ganz verschieden ist und doch im Sinne seiner Anlage wachsen und gedeihen kann. Beim einen ist’s ein aufrichtiges Beten, das mehr ist als eine fromme Übung, sondern sich im Vertrauen auf den gegenwärtig handelnden Gott gründet. Ein anderer tritt ein für eine gerechte Wirtschafts- und Sozialordnung von kommunaler bis hin zur globalen Dimension. Eine Ordnung, die nicht mehr darauf aus ist, das Leben des Einzelnen und der Schöpfung zu verwerten, sondern es zu fördern. So dass sich auch die Armen mehr als nur „satt essen“ können, sondern endlich teilhaben an dieser Fülle von Leben, wie sie Gott sich für uns alle ausgedacht hat.

Verstehen Sie mich nicht falsch, liebe Gemeinde: ich will freilich nicht, dass sich das Reich Gottes hier und heute vollendet – das wäre mehr als vermessen – und auch eine zweite, dritte und jede weitere Vesperkirche wird das nicht schaffen. Vollendung ist allein die Sache Gottes, nicht der Kirche, nicht des Staates.

Aber ich will schon dafür reden, dass unser christlich motiviertes Handeln, unsere am Beispiel Jesu geschärfte Hoffnung und auch Sehnsucht immer wieder sichtbar in Erscheinung tritt. Auch über eine Vesperkirche hinaus. Verlange ich da zuviel – oder rede ich gar gesetzlich?

Nun, mir fallen Sätze ein, die ich bei Albert Camus - Literaturnobelpreisträger aus Frankreich - gelesen habe. Er, der von sich selbst sagt, er sei ein Atheist, er hat sich nicht gescheut, uns Christen deutliche Worte ins Stammbuch zu schreiben. Worte, die mich schon als Schüler angerührt haben, und die ich bis heute nicht vergaß:

„Die Welt erwartet von den Christen“, so sagt Camus, „dass sie den Mund auftun, laut und vernehmlich, und ihre Verdammung unmissverständlich aussprechen; dass sie dem blutüberströmten Gesicht entgegentreten, das die Geschichte in unseren Tagen angenommen hat. Ich forsche nach dem Ursprung des Bösen. Aber ich weiß auch, und ein paar Menschen wissen es mit mir, was getan werden muss, um das Böse wenn nicht zu verringern, so doch wenigstens nicht zu vermehren. Wenn die Christen uns dabei nicht helfen, wer soll uns dann helfen?!“.

So weit der Dichter und Atheist Camus. Seine Gedanken passen bestens zur Jahreslosung: „Überwinde das Böse mit Gutem“.

Wahrscheinlich wendet Camus sich deshalb an die Christen, weil er weiß, dass unser Glaube die Bitte kennt: „Dein Reich komme!“ Damit beten wir um die andere Wirklichkeit, um die Wirklichkeit Gottes. Wir beten, wie der Mann aus Nazareth gebetet hat. Das wusste Camus und das weiß die Welt. Deshalb hat einer wie Camus etwas von uns erwartet. Zumindest hat er erwartet, dass wir ernst nehmen, worum wir bitten. Deshalb hat er die Christen zur Gemeinschaft mit den Armen und Geschundenen dieser Welt eingeladen. Ich verstehe ihn so: Eine Christenheit, die wie Jesus Gott als den gegenwärtigen Herrn der Welt glaubt, kann Fremdenfeindlichkeit, Fremdenhass und Ausgrenzungen ebenso wenig zulassen wie jenen Bruch der Gerechtigkeit, in dem monatelang ergebnislos um 5 € gestritten wird, während in einer Nacht in großer Übereinstimmung ein hunderte Milliardenpaket zur Rettung der Banken geschnürt wird. Eine solche Christenheit kann es nicht zulassen, dass Gottes gute Schöpfung derartig weit reichend und tiefgehend ausgeraubt wird. Wir sollen diese Schöpfung freilich bebauen und entwickeln, aber um sie damit zu bewahren anstatt sie zu verwerten. Wenn wir Christen uns nicht auf erbauliche Spielwiesen zurück ziehen wollen, auf denen wir uns fast nur noch mit uns selbst beschäftigen, müssen wir, muss diese Kirche Partei ergreifen für alle, die auf irgendeine Art und Weise unter die Räuber geraten sind - wie jener Namenlose in Jesu Gleichnis.

Ich sehe sie jetzt innerlich geradezu mit dem Kopf nicken – und höre gleichzeitig förmlich jenen Einwand: und wie sollen wir das schaffen? Wir sind doch gar nicht so viele und werden laufend weniger. Wir können doch nicht die Welt sanieren und sie endlich befrieden. Ja, das stimmt. Wir werden immer weniger.

Der kirchliche Alltag hat viel mit Mangel zu kämpfen. Darüber kann auch diese Vesperkirche nicht hinwegtäuschen. Aber Resignation und Duckmäusertum ist deshalb erst recht nicht angesagt. Wenn wir weniger werden und wenn für immer weniger Menschen in unserer Gesellschaft die Hoffnung auf das Reich Gottes von lebensbestimmender Bedeutung ist, dann brauchen wir doch auch weniger Rücksicht zu nehmen auf Denk- und Handlungsweisen, die nach dem Prinzip der Ausgewogenheit und Störfreiheit verlaufen. Wir brauchen keine Rücksicht zu nehmen auf solche, die einem neuen Aufbruch zum Leben nur das Gesetz, die Ordnung und die Tradition entgegenhalten können. Stattdessen können wir unser evangelisches und christliches Profil – das sich an keinem anderen als an diesem Jesus von Nazareth ausrichtet – öffentlich abbilden, ohne uns dafür schämen zu müssen und ohne den Anspruch zu haben, immer alles und allen recht zu machen.

Einer meiner liebsten Sätze im Neuen Testament lautet: „Gottes Kraft ist in den Schwachen mächtig“. Seine Kraft reicht uns allemal, um vernehmlicher für die Armen zu schreien – eben auch für die Armen unter uns. Und das sind bei weitem nicht nur die Empfänger von Sozialhilfe oder Hartz IV. Arm sind all jene, die - aus welchem Grund auch immer - vom Ganzen des Lebens auf irgendeine Weise ausgegrenzt sind. Ich denke an so manchen alten, kranken oder behinderten Menschen. Und deshalb bemühen wir uns – und dafür ist diese Vesperkirche für mich ein deutliches Zeichen – diesem glückseligen Pessimismus unserer Tage ("man kann zwar nichts machen, aber es ist trotzdem schön") einen beunruhigenden Optimismus entgegen zu setzen und die Hoffnung, dass nichts so bleiben muss, wie es heute noch ist. Und eben diese Hoffnung erwacht immer wieder, wenn wir mit Ernst beten: „Dein Reich komme“.

Dietrich Bonhoeffer war es, der vom Beten und vom Tun des Gerechten unter den Menschen gesprochen hat. Namenlose andere haben es vor und nach ihm getan. Und in dieser Tradition stehen auch wir. In der Bitte um das Kommen des Reiches Gottes, das unter uns schon wie ein Saatkorn wächst und gedeiht, können wir jetzt schon etwas von dem vorwegnehmen, was letztlich im erbarmenden Handeln Gottes begründet liegt. In dieser Bitte drücken wir Menschen aus, was wir brauchen und wonach wir uns sehnen. Der Ungeliebte ruft nach Liebe, der Hungernde nach Brot, der Gefangene nach Freiheit, der Ausgebeutete nach Gerechtigkeit. Wer um das Kommen des Reiches Gottes bittet, der hört auch all dies Rufen und Schreien. Und der hofft, dass all das Leiden ein Ende hat. Aber der weiß auch, dass Gott seine Verheißung zu seiner Zeit wahr macht, nicht unbedingt zu unserer Zeit. Gottes Reich kommt. In der Bitte des Vaterunsers findet diese Hoffnung ihre am reinsten verdichtete Gewissheit. Und diese Hoffnung kann ermutigen zu einer Entschlossenheit, die für ein menschenwürdiges und sinnhaftes Leben zu arbeiten beginnt.

Ich glaube, es kommt heute für uns, insbesondere als Kirche, darauf an, alle positiven Gedanken, Impulse und Motive so zu bündeln, dass Gottes Kraft in uns mächtig werden kann und uns zum Tun des Gerechten und zur Anklage der Ungerechtigkeit beflügelt. Und dann spürt diese Welt, wenigstens ein stückweit und auch ziemlich unvollkommen, aber sie spürt, was es bedeuten kann, wenn Jesus behauptet: „Das Reich Gottes ist mitten unter Euch.“

Amen

Jürgen Pratz
Diakoniepfarrer des Kirchenbezirks Ludwigsburg