Andacht am 16.02.2010, Pfarrer Karl Hüller

'Ein Blinder und ein Lahmer wurden von einem Waldbrand überrascht. Die Beiden gerieten in Angst. Der Blinde floh geradewegs auf das Feuer zu. Der Lahme rief: „Flieh nicht dorthin!“ Der Blinde fragte: „Wohin soll ich mich wenden?“ Der Lahme antwortete: „Ich könnte dir den Weg vorwärts zeigen, aber ich bin lahm. Hebe mich auf deinen Rücken, damit ich dir sagen kann, wo du den Schlangen, Dornen, dem Feuer und anderen Gefahren aus dem Weg gehen kannst, und damit ich dich glücklich in die Stadt weisen kann.“ Der Blinde richtete sich nach den Worten des Lahmen, und so gelangten sie beide wohlbehalten in die Stadt.'
(Kurzgeschichten 1,S.122,  Willi Hoffsümmer, 8. Aufl. 1986)

Wir Menschen brauchen einander. Keiner kann auf Dauer ohne die anderen leben. Manchmal vergessen wir das. Doch wirkliches Glück erleben wir nur im 'Wir'. So helfen wir uns selbst, wenn wir einander beistehen und auch für einander da sind. Soll Gemeinschaft gelingen, soll erfüllendes  Leben gelingen, muss jede und jeder nach seinen Möglichkeiten und seinen Gaben dazu beitragen.

 

Die Erfahrung jedoch zeigt, dass wir vom anderen immer wieder mehr erwarten, als wir selbst zu geben bereit sind. Es ist nötig, sich immer wieder von außen her kritisch zu betrachten. Oft ist es hilfreich, in die Kirche zu gehen - Gottesdienste helfen zu einem neuen Blick auf sich und die Welt.    
Und es ist Einübung nötig. Ja, Kinder müssen es lernen - die Fähigkeit, auch den anderen zu sehen. Lebenslang ist es wohl nötig, dies zu üben: sich einander zuzuwenden. Das 'Für sich sein' ist so verlockend...

 

'Ein Weizenhalm steht auf einem kahlen Feld. „Wie schön“, denkt er, „kein Ärger mit den anderen.“ Er merkt nicht, dass seine Ähre sich nicht füllt und voll wird.
Da fährt ein heftiger Wind über das Feld. Der Halm knickt um, er liegt tot am Boden. Es gibt kein Korn. Es gibt kein Brot.
Ein Weizenfeld dagegen: Wie Schwestern und Brüder dicht beieinander die vielen Halme mit vollen Ähren. Der Sturm tobt über das Feld. Die Halme stehen und geben sich Halt. Sie bauen einander ein bergendes Haus. Und drinnen wächst Brot.'
(nach Kurzgeschichten 1,S.120,  Willi Hoffsümmer, 8. Aufl. 1986)