Andacht am 18.02.2011, Pfarrerin Gunhild Mayer

Beschenkt

Eine kleine Geschichte möchte ich uns lesen:

„In einem Bus sitzt ein älterer Mann; in seinem Arm hält er einen wunderschönen Blumenstrauß. Die junge Frau ihm gegenüber kann ihren Blick nicht von der Blumenpracht lassen. Immer wieder schaut sie zu den bunten Blüten. Kurz vor der nächsten Haltestelle steht der Mann auf und sagt zu der Frau: „Gefällt Ihnen der Strauß?“ Er reicht ihr die Blumen und sagt: „Er ist eigentlich für meine Frau. Aber ich denke, Sie hätten es gern, dass Sie ihn bekommen. Ich gehe jetzt zu ihr und erzähle ihr, dass ich die Blumen Ihnen geschenkt habe.“
Sehr erstaunt nimmt die Frau den Strauß entgegen. Sie kommt nicht mehr dazu, ihn etwas zu fragen, ihm zu danken; schon ist er ausgestiegen. Sie schaut ihm nach. Er verschwindet durch ein Tor, das auf einen Friedhof führt.“
(aus: „Typisch! Kleine Geschichten für andere Zeiten“)

Ein überraschender Schluss. Ein Menschenschicksal leuchtet auf.
Zwei einander völlig fremde Menschen erleben eine kurze schöne Begegnung.
Und die Geschichte handelt vom spontanen unerwarteten Schenken und Beschenkt werden.

Unser Leben ist voller Begegnungen und voller Schicksale. Wir sind als Menschen – wenn wir uns nicht völlig zurückziehen-  täglich umgeben von Menschen. Das ist manchmal anstrengend, aber oft auch überraschend schön.
Wir laufen durch die Straßen, fahren in den Bussen und sehen, wenn wir unterwegs sind – vor allem im städtischen Bereich -  täglich unendlich viele Menschen.  
Meist laufen wir aneinander vorbei oder sitzen in Bussen und Bahnen stumm nebeneinander. Im Café oder Restaurant geschieht es selten, dass man sich zu einem völlig fremden Menschen an den Tisch setzt – außer es ist wirklich kein anderer Platz mehr frei.

Das ist hier in der Vesperkirche ganz anders.
Hier können solche Geschichten passieren, ähnlich wie die, die ich gelesen habe. Geschichten, wo Menschen sich begegnen und für eine kurze Zeit ein Stück Leben teilen, vielleicht etwas Wunderbares miteinander erleben, einander auf irgendeine Art beschenken.

Völlig fremde Menschen werden dann einander zu „Nächsten“; vielleicht sogar für eine kurze oder längere Zeit zu einem Freund, zu einer Freundin.
In einem spontanen Lächeln oder einem sich von selbst einstellenden kurzen Gespräch entsteht ein Kontakt, der beglücken kann. Auch sonst, nicht nur hier. Mitten im Gewühl einer Stadt, an irgendeinem Tag kann dies geschehen.
Beschenkt und berührt ziehen wir dann wieder unseres Weges, und es kann sein, dass die Welt für uns auf einmal ganz anders aussieht. Der Tag uns freundlich und schön und hell wird.

Manchmal denken wir dann auch: Nein, das war kein Zufall. Manchmal begegnet uns zur rechten Zeit der richtige Mensch. „Wie gerufen“ kam er oder sie – Danke!

Vielleicht fühlt sich die kleine Geschichte hier in der Vesperkirche so an:
„Und eben dachte ich noch, ich sei allein mit diesem schwierigen Leben, jetzt ergab sich ein Gespräch und ich fühle mich nicht mehr allein.“
„Da lächelt mich jemand an, da geht für mich die Sonne auf. Und ich denke so oft: wer mag mich denn schon.“
„Völlig überraschend erfuhr ich von einem Schicksal, nie hätte ich das gedacht! Ich kam mir so vor, als sei ich die einzige, die traurig ist. Diese Begegnung war wie ein Geschenk.“

Ich wünsche Ihnen heute und in der kommenden Zeit überraschende, gute, schöne, wundersame, gesegnete Begegnungen!