Andacht am 24.02.2011, Dekan Oliver Merkelbach

Liebe Gäste der Ludwigsburger Vesperkirche,

„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin …“ - was meint Jesus, wenn er uns in seiner Bergpredigt diesen Ratschlag gibt? Geht das nicht zu weit? Wo kommen wir hin, wenn wir einem Angreifer zum Dank, dass er uns geschlagen hat, auch noch die andere Wange hinhalten?

Bleiben wir da doch lieber beim alten Schema, das uns aus der Zeit des Moses überliefert ist: „Auge um Auge, Zahn um Zahn!“. Damals gegen das Prinzip ungezügelter Rache gerichtet erschien es durchaus sinnvoll und fortschrittlich, Gleiches mit Gleichem zu vergelten. Das entspricht auch heute noch unserem Gerechtigkeitsempfinden, denn da herrschen klare Verhältnisse. Nur so kann Kriminellen das Handwerk gelegt werden, nur so bleibt die Welt in Ordnung. „Wie du mir, so ich dir.“ Ist das nicht mehr als recht?

Sicherlich. Und doch spüren wir, dass wir bei dieser Denkweise in einen Teufelskreis hinein geraten. Und wir stecken bereits mitten drin im Prinzip von Schlag und Gegenschlag, von Hass und Rache. Das System der Vergeltung von Gleichem mit Gleichem, es läuft sich irgendwann einmal tot. Muss das immer so weitergehen? Muss man da zwangsläufig mitmachen?

Jesus gibt eine eindeutige Antwort. Er sagt: „Nein!“
„Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann halte ihm auch die andere hin …“ - Jesus durchbricht den teuflischen Mechanismus von Schlag und Gegenschlag. Er stellt sich gegen das allherrschende Vergeltungsdenken und zeigt uns eine Alternative auf. Man kann auch anders leben!

Doch Achtung! Jesus sagt nicht: „Wenn dich jemand schlägt, dann steck es halt weg und zieh den Schwanz ein.“ Jesus plädiert nicht dafür, sich einfach nur passiv zu verhalten. Er verkündet keine Moral für Feiglinge. Er sagt nicht: „Wenn dich einer auf die rechte Wange schlägt, dann trag es in Geduld.“ Vielmehr sagt er: „Dann halte ihm auch die andere hin!“.

Genau dies ist der entscheidende Unterschied. Mit dem Hinnehmen des ersten Schlages ist es offensichtlich nicht getan. Was Jesus will, das geht weit über ein passives Erdulden hinaus. Er ermuntert uns zu einer aktiven Gegen-Reaktion, die zu einer Veränderung der Situation führen soll. Dem, der mich schlägt, sage ich: Schlag ruhig noch einmal zu! Ich lass mich nicht ein auf dieses alte Spiel, ich steige aus. Ich boykottiere dieses Prinzip von Schlag und Gegenschlag.

Und was geschieht? Der Teufelskreis von Rache und Vergeltung wird durchbrochen. Es entsteht ein Freiraum, eine veränderte Situation. Meine Reaktion durchkreuzt die Pläne des Angreifers. Normalerweise sieht er sich als der Handelnde, der Angegriffene ist das Opfer.

Hier nun ganz anders: der Angegriffene wird zum Handelnden. Er verlässt seine Opferrolle und wagt einen neuen Ansatz. Er sieht den Angreifer nicht mehr als Feind, sondern als Mensch. Er bricht das gewohnte Freund-Feind-Schema auf und zwingt den anderen, neu zu überlegen, was er nun tun soll.

Was ist die Motivation des Angegriffenen? Er orientiert sein Handeln am Handeln Gottes. Von Gott heißt es: „Er lässt seine Sonne aufgehen über Guten und Bösen, und er lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.“ Wenn wir Gott unseren Vater nennen, dann ist er auch der Vater der vermeintlich Böden und Ungerechten. Die Wahrheit Gottes, sie ist nicht teilbar. Wir können nicht zum Einen „Vater unser“ sagen, auf der anderen Seite aber die geballte Faust in der Tasche halten.

Jesus hat sein Wort wahr gemacht - in seinem Leben und in seinem Sterben. Mit ihm ist in der Welt eine neue Möglichkeit wirklich geworden. Und bis heute gibt es Menschen, die ganz aus dieser neuen Möglichkeit heraus leben.

Zum Beispiel Martin Luther King. „Gewaltloser Widerstand gegen das Böse ist keine Sache für Feiglinge“, sagte er. „Wer gewaltlosen Widerstand leistet, will seine Gegner nicht vernichten oder demütigen, sondern er will ihre Freundschaft und ihr Verständnis gewinnen. Die Frucht ist eine neue Gesellschaft. Nicht nur weigern wir uns, auf unsere Gegner zu schießen, wir weigern uns auch, sie zu hassen … Macht mit uns, was ihr wollt, wir werden euch dennoch lieben!“