Andacht am 26.02.2012, Pfarrerin Gisela Vogt

Liebe Vesperkirchengemeinde,

manchmal ist man irgendwie blind für die Menschen um einen herum und man merkt es nicht mal. Man sieht nur die raue Schale, nur die großartige Fassade und lässt sich einschüchtern. Man sieht nur das alberne Betragen, die aufgemotzte Kleidung und schon ist klar – mit dem will ich nichts zu tun haben. Weil man nicht sehen kann, wie der andere eigentlich ist, bleibt man sich fremd.
Manche meinen,  man muss einen Schritt zurück treten. Dann hat man einen besseren Überblick und kann sachlich urteilen. Überlegen ob es sich lohnt, sich mit dem Menschen näher einzulassen.
In der Bibel wird eine Geschichte erzählt, die zeigt: Wes um Menschen geht, muss man sich anrühren lassen. Erst dann kann man sehen, was eigentlich los ist mit dem anderen. Erst wenn man sich anrühren lässt, sieht man wirklich gut. ( Markus 8,22ff)
Von einem Blinden wird in der biblischen Geschichte erzählt. Der konnte sich kein richtiges Bild von den Menschen machen. Er konnte sie gar nicht oder nur verschwommen, schemenhaft sehen. Wie Bäume erschienen sie ihm. Entsprechend verhielt er sich. Wahrscheinlich hatte er Angst vor ihnen.
Diesen blinden Menschen brachten sie zu Jesus. Der  rührte ihn an. Das war für den Blinden wahrscheinlich gar nicht so angenehm. Jesus bestrich ihm seine Augen mit Speichel.  Wie kennen das wohl auch aus dem eigenen Erleben, dass es nicht immer  angenehm ist, wenn einen etwas anrührt, wenn einem etwas zu nahe kommt, so berührt, dass es einem unter die Haut geht.  Bei dem Blinden hatte dieses Angerührt werden zur Folge, dass er wieder sehen konnte. Sehen, wie die Menschen wirklich sind.
Damit man sehen kann, was eigentlich los ist, muss man sich anrühren lassen, so verstehe ich es aus dieser Geschichte  und ich denke dabei an Judith, ein Mädchen, das so verschlossen ist, maulig, und motzig und sehr abweisend – bei genauem Hinsehen ist sie aber  einfach schrecklich schüchtern und unsicher. Sie will sich die Menschen vom Leib halten mit ihrer schroffen Art.
Um das zu begreifen, muss man sich von ihr anrühren lassen. Sich eben nicht von ihr  abweisen lassen, sich nicht enttäuscht von ihr abwenden und sie links liegen lassen.  Sondern ihr freundlich nah bleiben.
Ja ich weiß: Das ist mühsam und nicht immer angenehm, manchmal verletzt sie einen sogar - aber nur so hat Judiths die Chance aufzutauen und kann vielleicht  ihr  Scheu verlieren und ihre Unsicherheit überwinden.
Was wirklich mit einem Menschen los ist, sieht man oft nur, wenn man sich anrühren lässt und eben nicht auf Distanz geht.
Vielleicht muss man sich dazu auch von Jesus anrühren lassen. Denn der hat gezeigt, dass in jedem Menschenkind mehr steckt als das, was man auf den ersten Blick meint zu sehen, mehr als das, was man aus der Entfernung  sieht.
Ja, man braucht Geduld, den langen Atem…, um den Menschen nahe zu bleiben,  damit man es sieht. Und viel Liebe zu den Menschen. Liebe die dem anderen hilft, aus sich heraus zu gehen. Damit sich zeigen kann, wie er wirklich ist.
In diesem Sinne wünsche ich uns allen Geduld, den langen Atem und viel Liebe für die Menschen hier in der Vesperkirche und anderswo.