Eröffnungsgottesdienst am 12.02.2012, Pfarrerin Esther Kuhn-Luz

Predigt des Eröffnungsgottesdienstes über Lukas 16, 19 ff

Liebe Gemeinde,
ich freue mich sehr darüber, dass ich heute hier  bei der Eröffnung der dritten Vesperkirche in Ludwigsburg zu Ihnen  predigen darf. Über einen biblischen Text, der sehr aktuell die gesellschaftliche Realität von Armut und Reichtum aufnimmt. Und der dazu einlädt, die biblische Perspektive wahr zu nehmen - wie wir das gerade in der Schriftlesung gehört haben (1. Kor. 12, 25):
„ … Damit in der Gemeinschaft – der Kirche, der Gesellschaft -  keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen.“

Dass es die guten Einrichtungen der Vesperkirchen gibt, zu denen immer mehr junge Menschen, Alleinerziehenden und Familien kommen,  zeigt neben dem bewundersnwerten Engagement von vielen Menschen aus Kirche und Diakonie gleichzeitig auch eine veränderte gesellschaftliche Situation. Im reichen Deutschland gibt es immer mehr Armut.

„Es soll kein Armer, keine Arme unter euch sein“ – diese biblische Überzeugung (5. Mos 15, 4) weist darauf hin, dass zerstörerische und entwürdigende Armut nicht sein muss. Sie ist von Menschen gemacht und hat viele Gründe. Manche biografische, aber auch viele  gesellschaftliche und politische Ursachen. Armut in Deutschland muss nicht sein.
Dass in unserer Zeit 7,5 Millionen Menschen ihr Geld mit Minijobs verdienen und sich mit diesem Gehalt von 400.- € eine Rente erarbeiten, die nach 40 Jahren Arbeit gerade einmal 145.- € beträgt – das ist beschämend für eine reiche Gesellschaft.
Auch, dass fast 25% der ca. 40 Millionen Erwerbstätigen für ihre Arbeit nur einen Niedriglohn bekommen, der nur wenig über der Armutsgrenze liegt. Und dass fast eine Million trotz einer 40-Stunden-Woche noch die entwürdigende Erfahrung machen, Hartz IV beantragen zu müssen, weil ihr Stundenlohn weniger als 6.- € beträgt. Wenn wir wissen, dass erst eine Arbeit mit einem Stundenlohn von 8,50 € eine Rente ermöglicht, die ein wenig mehr ist als die Grundsicherung – nämlich 1200.- €.
Dann sind das nicht nur Zahlen, sondern beschreibt eine Realität, in der immer mehr Menschen nicht nur in Armut leben, sondern auch Angst haben, in Armut zu kommen: durch Arbeitslosigkeit, durch Krankheit, durch unerwartete hohe Ausgaben.

In diese gesellschaftliche Situation hinein lese ich die  Geschichte vom reichen Mann und dem armen Lazarus – eine aktuelle Geschichte über die fehlende Beziehung zwischen Reichen und Armen (Lukas 16, 19ff):

Wie ein Märchen mit einer tiefen Weisheit  beginnt die Geschichte: Es war einmal…
Hier geht es also um mehr als nur um eine wahre Begebenheit.
Hier geht es um  Arme und Reiche und deren fehlender Beziehung zueinander.
Das Gleichnis ist eine fiktive, also ausgedachte Geschichte vom Leben nach dem Tod, um möglichst konkret  das Leben vor dem Tod kritisch zu kommentieren.
Beide Hälften des Gleichnisses sind fiktiv – also ausgedacht – und gleichzeitig erzählen sie von der Wirklichkeit, damals und heute.

Zunächst wird der reiche Mann beschrieben, mit den damals üblichen Attributen des Reichtums: Purpur und kostbares Leinen, er lebt jeden Tag in Herrlichkeit und Überfülle.
Das kennen wir auch. Reichtum ist sichtbar: große Autos, große und mehrere Villen, eigene Privatflugzeuge oder Yachten, glitzernder Schmuck…
So berichten uns das zumindest verschiedene Illustrierten.
Reichtum ist äußerlich sichtbar!
Und gerne wird dieser Reichtum auch gezeigt.
Nur seltsam – in dieser Geschichte  hat der reiche Mann  keinen Namen!
Warum wird ihm kein Name gegeben?
Aus „datenschutzrechtlichen Gründen“?
Oder weil er eine Symbolfigur ist für „den Reichen“ schlechthin?
Weil der Reichtum so unpersönlich bleibt – man möchte sich ja nicht in die Karten gucken lassen…?

Das wird nicht begründet. Der „reiche Mann“ bleibt in seinem Reichtum merkwürdig blass. Ganz im Gegenteil zu den heutigen Medien, in denen wir uns ja vor Geschichten von reichen und sich selbst bereichernden Menschen kaum retten können. Wenn wir in der biblischen Erzählung weiterlesen, dann  wird spürbar, wo das Herz des Evangelisten Lukas schlägt, der diese Geschichte aufgeschrieben hat. Verwurzelt ist er im biblischen Engagement  für die Armen. Für uns als  Kirche ist das eine bleibende Orientierung für unser gesellschaftliches Engagement für arme, für arm gemachte  Menschen. Gerade auch mit solchen wichtigen Projekten wie der Vesperkirche.

Die Geschichte fährt fort:
„Es war aber auch ein Armer mit Namen Lazarus…“
Die Bedeutung des Namens ist erstaunlich, der Name Lazarus bedeutet:  „Gott hilft“.
Weil der Arme gleich mit seinem Namen vorgestellt wird, wird er zur Person. Zu einem, zu dem ich Beziehung aufnehmen kann. Wenn ich jemanden  mit Namen kenne, kann ich ihn auch ansprechen – er ist ein Mensch mit einer Biografie.
Viele sehr arme Menschen, die auf der Straße leben oder in menschenunwürdigen Unterkünften, vermissen neben der materiellen Armut gerade auch dieses: dass sie niemand mehr mit ihrem Namen anspricht. Dass sie bestenfalls eine Nummer sind, oder ein Objekt der Barmherzigkeit. Sie müssen einmal darauf achten: viele, die einem Menschen auf der Straße ein Geldstück in den Hut werfen, schauen desen Menschen nicht an. Sie nehmen keinen Beziehung auf. Weil sie sich selber schämen, der Armut ins Gesicht schauen zu müssen? Oder weil es die eigene Hilflosigkeit ausdrückt, mit Armut umzugehen?

Der arme Mann in unserer Geschichte heißt also Lazarus – Gott hilft.
Wir  werden allerdings schnell merken, dass die bittere Armut ihm viel von der Fülle des Lebens raubt, die Gott für ihn vorgesehen hat.
Wie beim Reichen wird auch bei ihm die Armut äußerlich beschrieben.
Er hatte eitrige Geschwüre.
Wir kennen die Verbindung von arm und krank inzwischen auch  bei uns in Deutschland. Seitdem es eine immer stärkere Mitfinanzierung im Gesundheitswesen gibt („Eigenverantwortung“, „Selbstfinanzierung“), gehen arme Menschen seltener zum Arzt, kaufen sich seltener notwendige Arznei und lassen kaputte Zähne nicht mehr richten.
Armut ist auch bei uns sichtbarer geworden.

Wie gut, dass es hier bei der Vesperkirche so selbstverständlich dazu gehört, dass Ärzte, Pflegekräfte täglich da sind für medizinische Betreuung – umsonst.

Noch etwas wird über Lazarus gesagt: er war hungrig. Obwohl er am Ort des überfließenden Reichtums war.
Mir ist dabei der Vergleich gekommen: mit der Spekulation auf Nahrungsmittel wird viel Geld verdient, während in den armen Ländern die Nahrungsmittel immer teurer werden.

Eine seltsame Art von Beziehung bzw. von Nichtbeziehung entwickelt sich gleich von Anfang an in dieser Geschichte. Es ist die Nichtbeziehung von Reichen und Armen.

Der verarmte, kranke, hungrige Lazarus liegt vor der Tür des Reichen. Weil er darauf hofft, wenigstens ein wenig vom Überfluss des Reichtums zu bekommen – „ was vom Tische des Reichen fiel“ – um  überleben zu können.
Wie üppig die Tische der Reichen damals  gedeckt waren, das kann man auf Fußbodenmosaiken in den damaligen hellenistisch-römischen Palästen sehen: da liegen Geflügelreste, Obst, Fische, Brot und Fleischstücke auf dem Boden. Die Mosaiken sind plastisch, bunt und farbenfroh. Sie zeigen den Reichtum im Spiegel seiner Abfälle voller Stolz.

Das ist uns nicht unbekannt. Auch bei uns wird Reichtum an unserem Müllaufkommen deutlich. Allerdings ist das inzwischen weniger mit Stolz, allerdings immer noch mit Arroganz und inzwischen auch mit Sorge verbunden. Und mit einer sehr zwiespältigen eigenen Müllökonomie: Export in arme Länder, damit die Menschen dort unseren Müll entsorgen.
Und immer mehr arme Menschen gehen auf ganz besondere Weise „einkaufen“: sie schauen in den Müllcontainern bei Aldi, Lidl und Co. was da an Essbarem alles weggeworfen wird…

Der verarmte, kranke, hungrige Lazarus liegt vor der Tür des Reichen. Das geschieht ja heute in einer globalisierten Welt auch noch auf ganz andere Weise.

Mir fallen die vielen Flüchtlinge ein, die aus den verschiedenen afrikanischen Ländern kommen. Dort ist  der Hunger groß und die Entwicklungschancen klein. Mit hohem Risiko versuchen sie, nach Europa zu kommen. Mit der großen Hoffnung, hier leben und arbeiten zu können. Und erleben dann, wie sie nur als Bettelnde und Störenfriede „am Tische des reichen Landes“ gesehen werden.
Armut, Hunger und Überfluss des Reichtums an einem Ort.
Man kann später nicht sagen, man hätte nichts davon gesehen…
Wie heute – während die einen die Abfallkörbe nach Pfandflaschen durchsuchen, sitzen andere in Luxusrestaurants: es darf auch ruhig etwas teurer sein.

Während die einen von ihrem Lohn trotz einer 40 Stundenwoche nicht leben können – denn wer weniger als 6.- € pro Stunde verdient braucht noch eine weitere Unterstützung durch ALG II und gehört damit zu den „working poor“ (arm trotz Arbeit) – verdienen andere Hunderttausende Euros. Ja, sie klagen sogar, wenn ihnen zu ihrem Millionenverdienst als leitender Banker nicht auch noch die Boni von ca. einer Million ausgezahlt werden, wie zur Zeit in England in dem aktuellen Konflikt in der Royal Bank of Scotland. Die Boni müsstenin diesem Fall von Steuergeldern bezahlt werden…
Der Spiegel schrieb neulich:
„Deutschland driftet auseinander.
Während sich Topmanager Millionengagen und -abfindungen genehmigen, wären viele Bürger und Bürgerinnen schon froh, wenn sie von ihren Löhnen leben könnten.“
Seit 1992 ist das reale Nettoeinkommen der reichsten 10% der Bevölkerung in Deutschland um 31% gewachsen. Das der unteren 10% ist überhaupt nicht gewachsen, es ist sogar gesunken: um minus 13%. Die Anzahl derer, die sich verschuldet haben, wächst stark. Gerade auch in der sogenannten Mittelschicht, bei jungen Menschen zwischen Zwanzig bis Mitte Dreissig.

Damit wird deutlich: es gibt nicht nur einen krassen Gegensatz zwischen Reichen und Armen in Deutschland. Sondern es gibt auch zunehmend eine Veränderung im Mittelstand.
Die Angst und die Realität, durch niedrige Löhne oder durch Arbeitslosigkeit zu verarmen ist groß. Auch bei denen, die eigentlich gut ausgebildet sind.
Wenn wir jetzt hören, dass durch die Insolvenz bei Schlecker 30 000 Arbeitsplätze in Gefahr sind und dass IBM beschlossen hat, insgesamt 15 000 Arbeitsplätze zu streichen, dann löst das bei den Betroffenen große Existenzängste aus.
Besonders für ältere Arbeitnehmende, aber auch für ganz junge kann das sehr schwierig werden. Die Angst vor der Arbeitslosigkeit ist zur Zeit eben deswegen so groß, weil die Aussicht auf einen vergleichbaren Arbeitsplatz kaum da ist – und weil das  Arbeitslosengeld nur ein Jahr lang bezahlt wird. Danach gibt es nur noch den ALG II–Satz von 374.- € plus geringe Miete plus Heizung.
Damit kann ein Abgleiten in die Armut relativ schnell gehen.

Es begab sich aber, dass der Arme starb.
Wunderbar wird beschrieben, wie fürsorglich und zärtlich die Engel nun mit dem verstorbenen Lazarus umgehen! Das hat er sich sicher zu Lebzeiten oft gewünscht, mal auf Händen getragen zu werden!
Er wird von den Engeln in Abrahams Schoß getragen. Mir fällt dazu ein Fries im Portal des Münsters in Basel ein: Abraham hält die Seelen der Verstorbenen in seinem Schoß. Wie in einem großen Tuch sitzen sie da. Man sieht nur die Gesichter, die aber strahlen einen richtig an: so glücklich und zufrieden sehen sie aus.
Endlich angekommen – hier geht es mir gut!
Also doch – eine ausgleichende Gerechtigkeit für die Armen!

Natürlich tauchen an dieser Stelle  Fragen auf. Ist das nicht eine typische Jenseitsvertröstung? So nach dem Motto: wem es hier schlecht geht darf halt darauf hoffen, dass später mal für ihn gesorgt wird?

Diesen Fragen muss man sich stellen.
Mir geht es so, dass ich  zum einen ich diese biblische, über den Tod hinaus gehende Verheißung einer ausgleichenden Gerechtigkeit wirklich als einen Trost empfinde.

Zum anderen aber ist es mir klar, dass die Intention des Gleichnis vor allem darauf liegt, hier und jetzt die Ungerechtigkeit von Armut und überbordendem Reichtum wahrzunehmen und sowohl gesellschaftlich als auch politisch dafür zu sorgen, dass es zu ausgleichender Gerechtigkeit kommt.
Es soll nicht über das Jenseits spekuliert werden, sondern es sollen Konsequenzen für das Leben vor dem Tod gezogen werden.

Auch der Reiche stirbt und – wir ahnen es schon – er wird nicht von den Engeln getragen und kommt nicht in Abrahams Schoß. Von ihm wird berichtet, dass er begraben wurde. Auch das eine Auszeichnung der Reichen damals: ein eigenes Grab, eine eigene Grabhöhle zu haben.
Wir erinnern uns an Josef von Arimathäa, der sein eigenes Grab für den Leichnam des armen Jesus von Nazareth gegeben hat.
Die Armen hatten kein Grab. Sie wurden verscharrt.
Übrigens ist das ja bis heute so. Wenn Obdachlose sterben und das Sozialamt die billigste Form wählen möchte. Ohne Trauerfeier und anonym. Manche GemeindepfarrerInnen erzählen von einem richtigen Kampf, bis sie es erreicht haben, dass auch für Obdachlose ein Gottesdienst in der Kapelle und zumindest ein Urnengrab möglich ist.

Gut – der Reiche wurde begraben.  
„Als er nun in der Hölle war“ – so selbstverständlich wird das hier geschrieben. Klar: der arme Lazarus in Abrahams Schoß, wo die Gerechten alle hinkommen. Der reiche Mann in der Hölle. So ist es gerecht – oder?

Hölle – daran glauben wir Protestanten doch gar nicht!
Das Fegefeuer fällt einem gleich ein. Und wie die Papstkirche zu Luthers Zeiten vielen Menschen damit Angst gemacht und selber gut daran verdient hat: „Wenn die Münz im Kasten klingt, die Seele aus dem Fegefeuer in den Himmel springt.“
Die Bibel in gerechter Sprache umschreibt hier, was Hölle bedeuten kann: „Totenreich, geplagt von Qualen.“
Innere Qualen? Gewissensbisse? Oder doch „nur“ äußere Qualen, eben dem Feuer ausgesetzt, das den reichen Mann so durstig macht?
Wie auch immer - mitten in dieser qualvollen Situation geschieht nun etwas sehr Besonderes: der reiche, nun aber sehr arme, weil gequälte Mann, fängt an, wahrzunehmen. „Er hob seine Augen auf in seiner Qual und sah….“
Das hätte er früher schon mal tun sollen – seine Augen öffnen und die Qual der armen Menschen sehen! Den armen Lazarus direkt vor seiner Haustür!
Schnell sind wir in unserer eigenen Welt angelangt. Wer liegt denn vor unserer Tür?
Wer liegt vor der Tür Deutschlands oder Europas? Das Gleichnis spricht die Armut und die Verantwortung für Arme auf sehr vielen verschiedenen Ebenen an!

Der reiche Mann sieht nun also, weil er seine Augen erhebt. Er sieht Abraham von ferne – und Lazarus in seinem Schoß. Und er rief:
„Vater Abraham, habe Mitleid mit mir und schicke Lazarus herüber, dass er seine Fingerspitze ins Wasser tauche und meine Zunge benetze. Denn ich leide in diesem Feuer!“

Mitleid, Erbarmen – wie notwendig das ist, damit eine Gesellschaft menschlich sein kann!

„Gerechtigkeit und Barmherzigkeit dürfen keine Fremdwörter werden in unserer Gesellschaft“.
So richtig bewusst wird das einem manchmal erst, wenn man selber auf Mit-Leiden der anderen angewiesen ist. Compassion – die Fähigkeit, mitleiden zu können und die Leidenschaft, sich gegen ungerechte Strukturen zur Wehr zu setzen.

Der reiche Mann kennt allerdings bis jetzt nur Mitleid mit sich selber.
Anstatt dass er sich nun bei Lazarus entschuldigt für seine Ignoranz gegenüber seiner Armut und deren entwürdigenden Folgen, macht er auf bestimmte Weise weiter wie vorher. Er spricht quasi „von Leitungsebene zu Leitungsebene“: Abraham ist sein Gegenüber, nicht Lazarus selber.

Übrigens: Lazarus  kommt in der ganzen Geschichte selbst gar nicht zu Wort. Er bleibt stumm.
Als Armer zu Lebzeiten verstummt er angesichts der Arroganz der Reichen. Übersehen zu werden und so mehr und mehr die Sprache zu verlieren, das ist eine der schlimmen gesellschaftlichen Ächtungen. Weil sie armen Menschen auch noch die Würde und die Selbstachtung wegnimmt. Um sich selber achten zu können gehört dazu, von anderen Menschen geachtet, wert geschätzt zu werden. Leider wird er auch in Abrahams Schoß nicht mit eigener Stimme gehört. Das macht so ein bisschen ein seltsames Gefühl. Ein freundlich paternalistisches Verhalten in der Fürsorge für die Armen.
Es fehlt der gleichberechtigte Umgang, die Beziehung mit den Armen.

Abraham wendet sich nun an den reichen Mann.
Bei soviel Beziehungslosigkeit in den früheren Szenen tut es jetzt richtig gut, dass es zu einer Beziehung, zu einem Gespräch kommt. Er spricht ihn als Sohn (Luther) oder als Kind (Bibel in gerechter Sprache) an.
Abraham reagiert sozusagen mathematisch – pädagogisch, wenn er zu ihm sagt:
Du hast in deinem Leben Gutes empfangen.
Lazarus hat in seinem Leben Böses erfahren.
Jetzt wird er getröstet und du erleidest Qualen.

Da ist mir zu schlicht. Ich weiß schon, dass damit an die Weherufe aus dem 6. Kapitel beim Evangelisten Lukas erinnert wird („Selig ihr Armen, denn das Reich Gottes ist euer! Wehe euch Reichen, denn ihr habt euren Trost schon gehabt!" Lk 6, 20.24). Aber wer in seinem Leben Gutes empfängt verhält sich  ja nicht immer so wie der reiche Mann. Oder?
Es gibt ja auch eine Verantwortlichkeit, mit Geld um zu gehen. Ein paar Zeilen vorher wird das erzählt (Lk 16,1ff): Der Verwalter wurde gelobt, weil er sich mit dem ungerechten Mammon Freunde gemacht hat – er hat ihnen Schulden erlassen!
Allerdings kommt danach dann doch der eindringliche Appell Jesu: „Kein Knecht kann zwei Herren dienen… Ihr könnt nicht Gott dienen und dem Mammon.“
Entscheidend ist  es nicht, ob ich Geld habe. Sondern wie ich mein Geld und Vermögen so einbringe, dass davon andere Menschen leben können und gesellschaftliche Strukturen verändert werden zu einer Kultur der gerechten Verteilung.
Allerdings kommt es immer darauf an, ob das Geld als Mittel gesehen wird. Oder als Objekt der Verehrung, dem ich alles unterwerfe. Wenn alles davon abhängt, aus Geld immer noch mehr Geld zu machen. Wenn sogar Diakonie und Caritas, die ganze soziale Arbeit darunter leidet, dass es zu einer „Ökonomisierung aller Lebens- und Denkgewohnheiten“ kommt. Wenn immer gefragt wird: „Was bringt es mir? Was bringt es uns ein?“

Abraham spricht dann von einer großen Kluft, die nicht zu überwinden ist.
Es besteht eine große Kluft… Erfahrungen vieler armer Menschen: nicht teilnehmen, nicht teilhaben zu können an den verschiedenen „Reichtümern“ unserer Gesellschaft.
An Konzerten, Theater, Kino…
An Bildung und Fortbildung und Ausbildung.
An Wertschätzung und sozialer Sicherheit.

In der Vesperkirche gibt es ja nicht nur gutes Essen, wohltuende Gemeinschaft, überraschende Begegnungen, sondern hier geht es ja auch darum, Menschen in ihren Fähigkeiten zu unterstützen. Und – ganz wichtig – die Möglichkeit, auch an kulturellen Angeboten teilhaben zu können.
In ganz besonderer Weise habe ich das letzten Sonntag in der Vesperkirche in Stuttgart erlebt: da gab es ein Konzert, bei dem die Besuchenden der Vesperkirche nicht nur Zuschauende, sondern selber die Künstler, die Sänger und Sängerinnen waren.
Das Stuttgarter Vesperkirchen-Bandprojekt „rahmenlos und frei“: eine Band, bei der professionelle Musiker und ca. 20 Vesperkirchengäste zusammenarbeiten.
Und letztes Jahr dafür den Stuttgarter Bürgerpreis in der Sparte Kultur bekommen haben.

Zurück zur Geschichte.
Nun lässt der reiche Mann nicht locker: er fängt nun an, fürsorglich zu werden. Und sorgt sich um die Zukunft seiner Familie. Nicht um die Zukunft der Armen. Er will nicht, dass seine Familie ähnliches durchmachen muss wie er.
„So bitte ich dich, Vater, schicke Lazarus in mein Elternhaus, denn ich habe 5 Geschwister, die soll er warnen, damit sie nicht auch kommen an diesen Ort der Qual.“
Abraham lässt sich aber nicht ein auf diese Bitte. Sondern gut jüdisch sagt er:
Sie haben Mose – also die Tora mit den Geboten und der Sozialgesetzgebung. Und die Propheten – also die Visionen von Gerechtigkeit und die Warnungen gegenüber ungerechtem Handeln und Leben als Gotteslästerung. Darin steht alles.
Der reiche Mann kennt seine Geschwister. Das Wort der Bibel genügt nicht, die wollen Zeichen sehen, was ganz Spektakuläres. Etwas, das einen dazu zwingt, anders zu werden.
„Wenn einer von den Toten zu ihnen käme, dann würden sie Buße tun und umkehren.“
„Hören Sie Mose und die Propheten nicht, so werden sie sich auch nicht überzeugen lassen, wenn jemand von den Toten auferstünde.“

Abraham ist kompromisslos. Die Tora erzählt auf so unterschiedliche Weise, dass wir das, was wir haben, von Gott haben – unser Leben, unsere Fähigkeiten.
Und dass wir von Gott aufgefordert sind, uns gegenseitig zu unterstützen in der Förderung der verschiedenen Gaben. Wenn nun manche über die Maßen reich werden, dann bedeutet das, dass anderen etwas weggenommen wurde. Der zunehmende Reichtum in westlichen Ländern und die zunehmende Armut in vielen afrikanischen und asiatischen Ländern hängt doch auch damit zusammen, dass die Rohstoffe und die Arbeitsleistung nicht in gleicher Weise wertgeschätzt wurden mit einem reellen Preis, sondern diese Ware nur als minderwertig galt – also als billig. Billige Ware, billige Arbeitskräfte – das macht dann auch eine billige Würde aus.
Und da sind wir dann schnell dabei, gegen das 1. Gebot zu verstoßen: Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus dem Sklavenhaus Ägypten befreit hat. Du sollst keine anderen Götter neben mir haben. Die Würde, die Gott jedem Menschen in gleicher Weise gibt, wird erniedrigt, wenn durch eine überhöhte  Gewinnmaximierung – v.a. wenn „nur das Geld arbeitet“ - die Armut und damit die Erniedrigung bei anderen Menschen wächst.
Im Disput von Abraham und dem reichen Mann wird die Vision von Lukas deutlich:

Dass sich Reiche (reiche Menschen, reiche Länder) auf die biblische Vorstellung von sozialer Gerechtigkeit einlassen. Dazu gehört die regelmäßige Entschuldung wie beim Erlassjahr, die Steuer („OPFER“) zur Unterstützung der Armen und für ein soziales Leben miteinander, ein fairer Umgang mit Löhnen und dem gemeinsam erarbeiteten Gewinn (Arbeiter im Weinberg).
Andere biblischen Geschichten machen das deutlich:
Dass der reiche Kornbauer so kritisiert wurde hing ja auch damit zusammen, dass er die Gewinne der gemeinsamen Arbeit der Landarbeiter und Händler alleine gehortet hat – eine der Ursachen von Hungersnöten. So treibt der reiche Kornbauer die Armen in den Hunger. Ganz anders eben in der gemeinsamen Fürsorge für alle von dem ägyptischen Herrscher, der auch reich war, Josef! Seine Vorsorge in einer „Ökonomie des Genug für alle“ lässt ihn einen Plan entwerfen, wie die guten Ernteerträge (Gewinne) so gesammelt werden können, dass davon in schwierigen Zeiten alle gut davon leben können. Das bleibt auch für uns heute im Umgang mit Reichtum und Armut ein gutes Beispiel.

Abraham ist kompromisslos. Die Tora erzählt auf so unterschiedliche Weise, dass wir das, was wir haben, von Gott haben – unser Leben, unsere Fähigkeiten.
Und dass wir von Gott aufgefordert sind, uns gegenseitig zu unterstützen in der Förderung der verschiedenen Gaben – und um arme Menschen so zu unterstützen, dass sie würdig leben können. Wenn nun manche über die Maßen reich werden, dann bedeutet das, dass anderen etwas weggenommen wurde. Das kleine Wörtchen „privat“ kommt ursprünglich von dem Wort „privare“ berauben…
Aber diese Geschichte ist nun nicht einfach eine Reichenschelte. Es ist eine Geschichte für uns alle – und jede und jeder versteht ja, wo er und sie in dieser Geschichte vorkommt.
Wir brauchen wieder eine gegenseitige Verantwortung: „…Damit im Leib keine Spaltung sei, sondern die Glieder in gleicher Weise füreinander sorgen.
Und wenn ein Glied leidet, so leiden alle Glieder mit – und wenn ein Glied geehrt wird, freuen sich alle Glieder mit!“
Paulus erinnert daran, uns als Kirche und auch als Gesellschaft als ein Leib, als eine Gesamtheit zu verstehen.

Die Angst, selber zu kurz zu kommen, die Gier, immer mehr besitzen zu wollen, der Neid, dass andere anders sind und mehr haben. Das treibt dazu, mehr haben zu wollen, als ich brauche. Und damit die eigenen und die Bedürfnisse des anderen aus dem Blick zu verlieren. Die Angst, die Gier, der Neid…: all das macht eng im Herzen und geizig im Umgang mit den eigenen Fähigkeiten und Gaben. Es macht uns unfähig und unwillig, davon etwas weiter zu geben, was wir bekommen haben. Und jede, jeder hat etwas, was andere brauchen. Sei es ein unterstützendes Wort, ein offenes hörendes Ohr, ein sehendes Auge. Sich gegenseitig wahr zu nehmen und verstehen zu lernen: so unterschiedlich wir sind – wir sind alle von Gott geschaffen. „Dienet einander, ein jeder mit den Gaben, die er und sie von Gott empfangen hat.“

Das wollen wir tun – mit der Tora und den Propheten und den Evangelien.
Die tiefe Kluft zwischen Armen und Reichen überwinden im Namen dessen, der gesagt hat:
„Ich bin gekommen, den Armen das Evangelium zu bringen – damit ihr alle das Leben in Fülle habt.“
Das wollen wir tun – im Namen Jesu Christi.

Amen

Esther Kuhn-Luz
Wirtschafts- und Sozialpfarrerin
Kirchlicher Dienst in der Arbeitswelt (KDA), Region Stuttgart