Andacht am 06.03.2010, Martin Strecker

Liebe Vesperkirchengäste, liebe Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter,

Ich habe Ihnen heute eine Geschichte mitgebracht:

Ein jüdischer Geistlicher, ein Rabbi, wurde von seinem Schüler gefragt: „Rabbi, wie stellst Du Dir Himmel und Hölle vor?“ Der Rabbi antwortete: „Ich sehe einen Saal. Darin steht eine große Tafel mit köstlichen Speisen. Die Menschen an dieser Tafel haben steife Handgelenke. Sie haben Messer und Gabeln mit überlangen Stielen. Sie sind ihnen an ihre steifen Handgelenke gebunden. – Auf ein Zeichen hin stürzen sich alle auf die Speisen. Sie fahren mit ihren überlangen Messern und Gabeln umher, erreichen aber nichts. Sie werden immer gieriger, aber bekommen nichts in ihren Mund.
„So“, sagte der Rabbi, „scheint mir die Hölle zu sein.“

Ja, so erlebe ich das häufig – und das kennen Sie sicher auch: Jeder schaut nach sich, will für sich etwas herausschlagen. Und merkt dabei gar nicht, dass das letztlich gar nichts bringt. Denn: Satt wird so keiner. –
Unseren Alltag kann man so betrachtet, manchmal auch als Hölle bezeichnen. – Aber unsere Geschichte geht ja weiter:

„Und wie sieht es im Himmel aus?“, fragte der Schüler. – „Wieder stelle ich mir einen Saal vor. Auch darin steht eine Tafel mit köstlichen Speisen. Und auch die Menschen an dieser Tafel haben steife Handgelenke. Auch an ihren Handgelenken sind überlange Gabeln und Messer gebunden. – Aber: Nach dem Zeichen beginnen alle in Ruhe zu essen. Sie schneiden mit ihren überlangen Messern und füttern sich gegenseitig mit ihren überlangen Gabeln an den steifen Handgelenken. Sie essen und feiern miteinander ein Freudenmahl.“ – Und der Rabbi sagte: „So, scheint mir der Himmel zu sein.“


Doch, so kann ich mir das auch vorstellen: Im Himmel feiern wir alle gemeinsam ein großes Fest. Jeder und Jede gehört dazu, hat teil an diesem Fest. Unterschiede spielen keine Rolle, wir haben ja alle die gleiche „Behinderung“ – wir denken nämlich alle zuerst an uns.
Aber: Im Himmel geht es uns allen trotz dieser „Behinderung“ gut, weil wir uns gegenseitig unterstützen. Und die Erfahrung zeigt: Es reicht dann für uns alle. – Oder um in der Geschichte zu bleiben: Nur so wird es ein Fest!

Ist diese Erfahrung so weit weg? Nein. Ich vermute auch solche Erlebnisse haben Sie in Ihrem Leben. – Auf jeden Fall hier in der Vesperkirche.
Nicht dass die Vesperkirche der Himmel auf Erden ist, aber sie ist ein kleines Zeichen dafür, dass der Himmel nicht erst irgendwann und irgendwo da oben stattfindet.
Nein, der Himmel beginnt schon hier und heute, dann nämlich, wenn wir uns gegenseitig zu solchen Erfahrungen verhelfen: Jeder und jede gibt – und jede und jeder empfängt.                Und ich weiß sowohl von den Gästen, als auch von den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern: In der Vesperkirche ist es so, dass am Abend tatsächlich alle etwas mitnehmen! –

Man könnte auch sagen: Das ist ein Vorgeschmack auf den Himmel. – Und den sollte es nicht nur während der Vesperkirche geben! Denken Sie in den nächsten Tagen – nach der Vesperkirche – dran!