Andacht am 28.02.2011, Pfarrerin Hannelore Bohner

Die geschälte Apfelsine

S. Caroll, der in einem Waisenhaus in London aufgewachsen ist, erzählt folgende Begebenheit aus seinem Leben:
Schon als kleiner Junge hatte ich meine Eltern verloren und kam mit 9 Jahren in ein Waisenhaus in der Nähe von London. Es war mehr ein Gefängnis. Wir mussten 14 Stunden am Tag arbeiten – im Garten, in der Küche, im Stall, auf dem Felde. Kein Tag brachte eine Abwechslung und im ganzen Jahr gab es für uns nur einen einzigen Ruhetag: Das war der Weihnachtstag. Dann bekam jeder Junge eine Apfelsine zum Christfest. Das war alles. Keine Süßigkeiten. Kein Spielzeug. Aber auch diese eine Apfelsine bekam nur derjenige, der sich im Laufe des ganzen Jahres nichts hatte zuschulden kommen lassen und immer folgsam gewesen war.
So war  wieder einmal das Christfest herangekommen. Während nun die anderen Jungen am Waisenhausvater vorbeischritten und jeder seine Apfelsine in Empfang nahm, musste ich in einer Zimmerecke stehen und zusehen. Das war die Strafe dafür, dass ich einmal weglaufen wollte. Nachdem die Geschenke verteilt waren,  durften alle auf den Hof. Ich musste in mein Bett gehen. Ich war traurig und beschämt und verkroch mich in meinem Bett.
Nach einer Weile hörte ich Schritte im Zimmer. Eine Hand zog die Bettdecke weg. Ich blickte auf. Ein kleiner Junge namens William stand vor meinem Bett, hatte eine Apfelsine in der Hand und streckte sie mir entgegen. Woher hatte er diese überzählige Apfelsine? Es musste etwas dahinter stecken. – Auf einmal erkannte ich, dass die Apfelsine bereits geschält war und mir wurde klar, dass ich fest zupacken musste, damit sie nicht auseinander fiel.
Einige Jungen hatten Stücke von ihrer Apfelsine abgegeben und sie zu einer neuen für mich zusammengesetzt. Das war mein schönstes Weihnachtsgeschenk.
(aus: M. Achtnich, „Zeit ist der Mantel nur“)

Caroll war glücklich. Seinen Freunden war er nicht egal. Sie haben sich überlegt, wie sie ihm eine Freude machen könnten und haben das wenige mit ihm geteilt. Jeder hat etwas abgegeben. Eine neue Apfelsine ist entstanden. Man kann sagen: Das Teilen wurde zu einer “runden Sache“, denn er hat sich von den Freunden angenommen gefühlt und konnte wieder lachen.
Haben Sie die Erfahrung auch schon einmal gemacht: Einen Kuchen gemeinsam zu essen – so wie hier in der Vesperkirche. Oder Zeit gemeinsam zu verbringen, seine Zeit mit jemandem teilen, das tut so richtig gut, das baut auf und zaubert auch ein Lachen auf unser vielleicht sonst so verhärtetes Gesicht.
Auch die ersten kleinen Gemeinden von denen uns im neuen Testament berichtet wird, kamen zusammen, sprachen über die Botschaft Jesu und teilten alles miteinander, was sie hatten. So lebten und achteten sie sich.
So wollen auch wir teilen und uns achten.
Das tut gut.