Andacht am 01.03.2012, Pfarrer Siegfried Fischer

Liebe Besucherinnen und Besucher der Vesperkirche,

ich grüße Sie alle herzlich. Mein Name ist Siegfried Fischer, evangelischer Krankenhauspfarrer in Ludwigsburg.

„Amselzehen sind warm“
Im August 1963 verlässt der Schriftsteller Wolfdietrich Schnurre zum ersten Mal nach mehreren Monaten sein Krankenzimmer in einer Berliner Klinik. Er leidet an einer neurologischen Erkrankung, hat oft Lähmungserscheinungen, und braucht noch viel Geduld.
Aber nun kommt der Tag, an dem er sich vorsichtig aus der Klinik wagt. Die Beine bandagiert, er hat Schmerzen.
Dann passiert es. „Plötzlich der Sturz“, schreibt er später im Telegrammstil. „Ich hatte aus Scheu vor Zuschauern eine einsame Ecke im Park gewählt. Niemand, der mich so schnell fände. Lag reglos da; jede Motorik erloschen; Pflaster unter den Knien...“

„Da kam sie. Hüpfte erst scharrend um mich herum.
Schreckte auch einmal, als mir das Augenlid zuckte.
Auf der Schulter den Schnabel gewetzt.
Den Arm entlangbalanciert.
Und schließlich von Finger auf Finger umsteigend.
Ein Jahr lang kein Gefühl in den Händen, und nun die Wärme dieser sanft zugreifenden Amselzehen empfunden.
Das war es. Höher läßt sich das Leben nicht schrauben."

„Amselzehen sind warm." So beginnen seine späteren Notizen über den Vorfall im Park des Berliner Krankenhauses. Diese unvermutete Wärme markiert die Grenze zwischen Tod und Leben.
Zuerst die Lähmung des ganzen Körpers, die dem Kranken immer mehr die Hoffnung nahm - dann der verwegene Aufbruch in den Park - dort der Sturz fern von Menschen, die ihm zu Hilfe kommen könnten. Und dann das Empfinden der Wärme, die von den Zehen eines Vogels ausgeht – und alles veränderte. Diese Momente waren wichtiger als alles, was danach geschah: dass man den Gestürzten fand, ihm aufhalf, ihn zurückbrachte in sein Krankenzimmer.
Dass der Hinfällige die Wärme dieser Amselzehen spürt, bringt die Wendung und leitet eine wundersame Heilung ein. „Höher läßt sich das Leben nicht schrauben."

Es ist wie im Märchen: Ein Vogel bringt einem, der in großer Gefahr ist, eine rettende Botschaft. Es ist noch nicht so weit.

„Ich weiß gar nicht, wie ich das machen soll, wenn ich wieder nach Hause muss“, sagte mir vor mehreren Wochen ein Patient aus der Psychiatrie. Über einen Monat war er bereits dort – und er hatte Angst, seine Wohnung wieder betreten zu müssen und das Alleinsein wieder kommt.

Gestern rief er bei mir an, seit 5 Tagen ist er nun wieder zu Hause. Es gehe ihm gut. Ein guter Freund habe sich überraschend gemeldet und sei vorbeigekommen. Auch eine Frau aus der Nachbarschaft habe vorbeigeschaut und sich eine Weile zu ihm gesetzt.
Es war ein gutes Gefühl, seine veränderte Stimme zu hören. „Es geht wieder weiter“, sagte er noch.

Amselzehen sind warm. Manchmal ist es ein guter Freund, manchmal eine Amsel, die wir in diesen Tagen wieder vermehrt pfeifen hören. Manchmal braucht es eine Weile, bis wir sie wahrnehmen. Manchmal braucht es jemand, der zu mir sagt, dass Gott da ist und mitgeht.

Amselzehen sind warm. „Steh wieder auf und geh“, erzählt die Amsel. „Du hast noch einen Weg vor dir.“

Heute ist der 1.März, draußen scheint die Sonne wieder. Meine Mutter hat, als wir noch Kinder waren, immer gesagt: wenn es März wird, wird es bald wieder Frühling. Ich wünsche Ihnen allen einen guten Tag.